Töchter Venedigs

Charles Burney nennt es einen fast unglaublichen Anblick, Jean-Jaques Rousseau kann sich nichts so Wollüstiges vorstellen - aus ganz Europa reist die Prominenz an, um sie zu erleben: die Mädchen aus den berühmten venezianischen Konservatorien (ursprünglich Waisenhäuser). 

Die heiß begehrten Aufführungen der Musikerinnen bleiben den angereisten Voyeuren in der Regel jedoch ein rein akustischer Genuss: Die Mädchen spielen und singen hinter blickdichten Gitterwänden oder zumindest in gebührendem Abstand zum Publikum

 

(Galakonzert eines Mädchenorchesters und -chores zu Ehren des russischen Thronfolgers in der Sala dei filarmonici, 1782; Guardi)

 

In den Konservatorien finden Mädchen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern - sofern sie begabt sind - eine musikalische Ausbildung, wie sie vorzüglicher nicht sein könnte. Zu den Lehrern gehören Größen wie Vivaldi, Porpora, Hasse, Galuppi und viele mehr. Etliche weibliche Berühmtheiten der großen Opernbühnen entstammen diesen Schulen, aber auch Instrumentalistinnen und Komponistinnen können nach Beendigung ihrer Ausbildung mit der Musik einen Lebensunterhalt bestreiten. Die Mädchen dürfen in dieser der profanen Gesellschaft entrückten Welt ausnahmslos alle Instrumente erlernen, Waldhorn und Pauke eingeschlossen und erhalten Unterricht in allen für das Spielen und Komponieren relevanten Disziplinen. 

 

Eine ausgesuchte Figur der Musikgeschichte, Tochter des Ospedale della Pietá hinterlässt leider kaum eigens veröffentlichte Werke (oder wir müssen sie noch finden), sie sei dennoch erwähnt: Regina Strinasacchi  (1761 - 1839)

 

 (Regina Strinasacchi, getuschte Silhouette von Hauk)

 

 Ein eindrückliches Bild ihrer Einzigartigkeit zeichnet Leopold Mozart, als er in einem Brief an seine Tochter Maria Anna über die Geigerin schreibt:

Sie spielt keine Note ohne Empfindung, so gar bei der Sinfonie spielte sie alles mit Expression, und ihr Adagio kann kein Mensch mit mehr Empfindung und rührender spielen als sie; und eben so schön ist ihr Ton, und auch Kraft des Tones. Überhaupt finde ich, dass ein Frauenzimmer, das Talent hat, mehr mit Ausdruck spielt, als eine Mannsperson.

Sein Sohn Wolfgang widmet Strinasacchi eine Sonate für Klavier und Violine in B-Dur, welche sie angeblich just im Moment der Aufführung vom Blatt spielt. Später wird sie (wahrscheinlich) sogar Konzertmeisterin im selben Gothaer Orchester, das nach ihr kein geringerer als Louis Spohr leiten wird. 

Im Ospedale San Lazzaro dei Mendicanti wächst Maddalena Lombardini (1745 - 1818), ebenfalls Geigerin, musikalisch auf. Diese muss sich zunächst siebenjährig gegen rund 30 andere Bewerberinnen auf einen der begehrten Ausbildungsplätze durchsetzen, die Zeiten der Konservatorien als reine Waisenhäuser sind längst vorbei. Die Ausbildung lohnt sich, über Lombardini heißt es, sie habe es in der edlen und großen Ausführung des Adagio weit gebracht, dass sie Nardini, dem besten Schüler Tartinis an die Seite gesetzt wurde.

Bezeichnender Weise bleibt Lombardini nach ihrem Tod in der männerdominierten Musikwelt vor allem als Schülerin Tartinis in Erinnerung, der einen aufschlussreichen Brief mit Anweisungen zum Violinspiel an sie richtet. Vermutlich als fünfzehnjährige kontaktiert sie Tartini zum ersten Mal und gehört später zu seinem Schülerkreis, der sich in Padua um ihn schart (Lombardini unternimmt in den 1760er Jahren mehrere durch das Ospedale finanzierte Studienaufenthalte in Padua). Die Nähe zu einer solchen Berühmtheit wie Tartini erleichtert womöglich nicht nur ihren geigerischen, sondern auch ihren beruflichen Weg. 

Sie ist allerdings weit mehr als eine Schülerin Tartinis. Sie unternimmt (zunächst mit ihrem Ehemann Lodovico Gaspar Maria Sirmen, ebenfalls Geiger) etliche erfolgreiche Konzertreisen. Die Heirat mit Sirmen muss übrigens obligatorisch durch das Ospedale genehmigt werden und kann erst nach einem zweiten solchen Gesuch stattfinden. 

Später setzt Lombardini ihre Karriere jedoch im Alleingang fort, reist mehr oder weniger durch ganz Europa bis nach Russland und veröffentlicht in mehreren Verlagen ihre eigenen Werke. Sie schreibt Violinduos, Violinkonzerte, Trios und Streichquartette.

Um 1772 beginnt die renommierte Virtuosin eigentümlicher Weise eine zweite Laufbahn als Sängerin. Singen war neben dem Spielen eines Tasteninstrumentes eigentlich die einzig unverfängliche musikalische Ausdrucksmöglichkeit für Frauen im 18. Jahrhundert - ob Lombardini der Kampf gegen die Windmühlen des Männerkosmos Violinspiel schlicht zu mühselig wurde? Auffallend häufig betont man in Lobeshymnen ihres Spiels ganz nebenbei die besondere Anmut oder weibliche Grazie, die ihrer Interpretation auf Grund ihres Geschlechts anhaftet - eine Frau mit Geige gilt ohnehin als Sensation. 

Vielleicht war aber auch ihre tartinische Art zu spielen langsam aus der Mode gekommen…. Der musikalische Zeitgeist und die Erwartungen des Publikums ändern sich im Laufe ihres Lebens: An (vielleicht auch neben) die Stelle des expressiven Adagio-Spiels als unangefochtene Königsdisziplin einer Geigerin rückt allmählich spektakuläre technische Brillanz, die das Publikum mehr in Staunen als in Herzensbewegung versetzt (Madame Sirmen kann das Ohr entzücken, aber sie imponiert nicht. Mercure de France, 1785). Man vergleicht sie mit Strinasacchi, die bereits einer anderen musikalischen Generation angehört wie folgt:

Madame Syrmen übertrifft sie meiner Meinung nach in der gesetzten hohen Ausführung des Adagio, die der tartinischen, nardinischen und bendaischen Schule besonders eigen ist, dagegen übertrifft Strinasacchi Mad. Syrmen an Geschwindigkeit, besonders in runder Abstossung der 32 Theile, vielleicht auch an Delicatesse in Mezzotinten

(Wenn wir Mozarts zuvor zitierten Worten Glauben schenken, vereinte Strinasacchi jedoch offensichtlich die Meisterschaft sowohl im Adagio wie in virtuosen Passagen)

Nicht zufällig sehen wir Strinasacchi mit einem damals modernen Bogen abgebildet, während Lombardini auf dem Titelblatt ihrer 1773 gedruckten Violin-Duos mit einem langen konvexen Bogen prangt.

Das Schicksal, am Ende einer Karriere nicht mehr en Vogue zu sein, ereilt jedoch viele große Talente und mindert Lombardinis Bedeutung für die Musik- und GeigerInnengeschichte keineswegs: sie bleibt eine außergewöhnliche Künstlerin.

 

Ein anderer Spross Venedigs heißt Anna Bon (1738 oder 1740 - 1767) - den Gerüchten zufolge (ihr Aufenthalt in einem venezianischen Konservatorium ist mehr wahrscheinlich als sicher). Es ist wenig bekannt über sie: Die Mutter Sopranistin, der Vater Künstler, später Zeremonienmeister, die Familie steht im Dienst der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth. Sechzehnjährig veröffentlicht Anna stolz ihre ersten sechs Kammersonaten für Flöte und Basso Continuo (sie lässt es sich nicht nehmen auf dem Deckblatt ihr Alter gleich mit zu veröffentlichen). Später versucht sie vergebens, sich mit einem Band von Trios beim Kurfürsten Karl Theodor für dessen Mannheimer Hofkapelle zu empfehlen. 

Ein Textbuch zu einer Oper mit dem Titel Artaserse nennt Anna Bon als Komponistin - das Werk ist leider verschollen. Wer weiß, was sie für den florierenden Hof der Wilhelmine noch alles verfasst haben mag? 

Der Tod Wilhelminens 1758 bedeutet sicher für viele ihrer Musiker eine plötzliche Perspektivlosigkeit - Anna tritt jedoch ab ca. 1760 nach dem Vorbild der Mutter als Sängerin in Erscheinung. 1762 erhält die Familie Bon dann ein Engagement beim Fürsten Esterhazy, Anna kann sich abermals als Sängerin hervortun. Über ihren weiteren Lebensweg ist wenig bekannt. Was bleibt, ist ihre Musik.